Mein Blick schwankt vom Handydisplay zur Bahnhofsuhr und zurück. Mehrfach innerhalb weniger Sekunden. Die Uhr tickt und ich bald aus. Wie kann er mir das antun? Wo steckt er bloss?
Man könnte meinen, die Zeiten auf dem Fahrplan seien mehr so Richtwerte. Komm ich heut nicht, komm ich morgen. Ich dachte ja immer, Zug kommt von zügig, aber seit heute glaube ich, das Wort kommt eher von Verzug.
Ich werde nervös, wenn der Zug nicht einfährt, kann einem das ganz schön einfahren. «Wo bleibst du?», hauche ich lautlos. Weiss der Zug denn nicht, dass ich Termine habe? Wichtige Termine. Dass Leute auf mich zählen? Bedeutende Leute. Wenn ich spät ankomme, kommt das nicht gut an.
So stehe ich also auf dem Bahnsteig – oder besser: auf dem Weit-und-breit-keine-Bahn-Steig –, fluche und verfluche den Schienenverkehr. Diese Verspätungen, immer, bringen mich zur Weissglut. Mittlerweile glaube ich, ich wäre schneller am Ziel, wäre ich zu Fuss gegangen. Zwanzig Kilometer hin oder her.
Hätte mein Leben einen Soundtrack, spielte gerade Ludwig van Zu-Späthoven. Die Musik würde immer dramatischer, immer lauter, episches Crescendo. Ich überlege mir, der Tragik der Situation angemessen, in Zeitlupe auf die Knie zu sinken, die Hände in die Höhe zu recken und «wiesoooo?» zu schreien. Aber es wäre schade um meine frischgewaschenen Lieblingshosen.
Das beruhigt mich, an die schönen Seiten des Zugfahrens zu denken. Vielleicht ist es ja tatsächlich eine Sache der Einstellung, vielleicht sollte ich versuchen, der Verspätung das Positive abzugewinnen, optimistisch zu sein – das Glas mag halbleer sein, doch der Zug ist halbvoll.
Womöglich sollte ich den Fahrplan tatsächlich etwas entspannter nehmen. Laissez-faire. Oder eher: Laissez-Fahr. Ja, der Zug ist noch nicht da, aber das steigert doch umso mehr die Vorfreude. Gerade in dieser rastlosen Zeit ist doch jedes Warten ein kurzer Moment des Durchatmens. Ausserdem nicht zu wissen, wann meine Verbindung eintrifft, kann ganz schön aufregend sein, das Leben braucht doch eine Spur Unberechenbarkeit, ein wenig Abenteuer. Keine gute Geschichte beginnt mit: «…und dann kam er pünktlich zur Arbeit.»
Vielleicht muss man das Zuspätkommen sogar regelrecht zelebrieren, so wie es die Deutschen tun. Nicht umsonst heisst einer der grössten deutschen Popstars Bahn Delay. Beim grossen Kanton weiss man auch: Verspätung ist relativ. Wenn in der Schweiz ein Zug fünf Minuten zu spät eintrifft, alarmieren besorgte Pendler Tagesschau, CNN und Tierwelt. Ein Welt-, oder immerhin Schweizuntergang! Kommt ein Zug irgendwo im Rest der Welt fünf Minuten zu spät, sorgt das nicht selten für Jubel, Freudensprünge, landesweite Begeisterungsstürme. Und die Zeitungen titeln: «Sowas hat’s noch nie gegeben: Die Bahn fast pünktlich!» Es soll Züge geben, die sind seit zwanzig Jahren unterwegs und immer noch nicht am Ziel eingetroffen.
Die besten Verspätungen sind aber jene, bei denen man bereits im Zug sitzt. Denn je länger der Zug braucht, um anzukommen, desto länger darf man komfortabel sitzen bleiben. Man erreicht vielleicht später den Bahnhof, aber man ist auch erst später wieder zurück im drögen Alltag. Das ist geschenkte Zeit. Eine Zugabe in der Zugskomposition. Der Kluge fährt im Zuge? Dann ist der Verspätete umso klüger.
Ich merke, wie ich auf dem Perron plötzlich viel gelöster bin, so gar nicht mehr nervös. Auch habe ich schon lange nicht mehr auf die Uhr geschaut, weder auf dem Handy noch auf die grosse des Bahnhofs. Als ich hochblicke, bleibt mein Blick an der Anzeigetafel hängen. Moment… das kann nicht… hä?
Ich drehe mich um, blicke zum angrenzenden Gleis und sehe, wie der Zug der Sihltal Zürich Uetliberg Bahn abfährt. Mein Zug. Auf die Minute pünktlich. Die Vision der SZU soll ja lauten: «Wer bei uns einsteigt, hat mehr vom Leben.» Aber einsteigen muss man halt schon selber.
Die Weissglut ist zurück. Nichts da Laissez-Fahr. Von wegen Zuspätkommen zelebrieren. Alles Zwangsoptimismus. Schönrederei. Ich will pünktlich sein! Ich habe wichtige Termine! Bedeutende Leute zählen auf mich!
Ich sinke in Zeitlupe auf die Knie, recke die Hände in die Höhe und schreie «wiesoooo?»