Als wir uns Ende Juli mit der SZU von Zürich in Richtung Sihlwald aufmachen, gilt es am Bahnhof Langnau-Gattikon in den Bus umzusteigen – wegen Bauarbeiten. Am Bahnhof Sihlwald entdecken wir sogleich Mirella Wepf, die uns durch diesen Park von nationaler Bedeutung führen wird. Seit 2020 arbeitet Wepf als Projektleiterin Kommunikation für die Stiftung Wildnispark Zürich, die für den Sihlwald und den Tierpark Langenberg verantwortlich zeichnet. Die Zürcherin trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift ihres Arbeitgebers und feste Wanderschuhe.
Zürcher Stadtwald und Holzlieferant
Kaum angekommen, machen wir uns, begleitet von Fotografin Manuela Haltiner, auf in den Sihlwald. Im Vorfeld unseres Spaziergangs haben wir uns ein wenig schlau gemacht und wissen, dass der zwischen Zürich und Zug gelegene Erholungsraum eine Fläche von rund 1100 Hektar umfasst, mehr als 70 Kilometer Wanderwege hat und im vergangenen Jahr an die 160'000 Besuchende anlockte.
Während Jahrhunderten diente der Sihlwald als wichtigster Holzlieferant der Stadt Zürich. Doch seit der Jahrtausendwende wird hier kein Holz mehr geschlagen, ausser zur Sicherung von Wegen und Infrastrukturen. Bewusst überlässt man das Gebiet sich selbst. So entsteht zusehends ein Naturwald, wie er in Mitteleuropa vor Jahrhunderten noch gang und gäbe war. Der Naturerlebnispark umfasst auch eine vier Quadratkilometer grosse Kernzone, in der die Natur absoluten Vorrang geniesst. Hier dürfen Besuchende die Wege nicht verlassen. Darum herum, in der sogenannten Naturerlebniszone, darf man sich hingegen frei bewegen.
Kaum haben wir die Sihl hinter uns gelassen und die geschäftige Sihltalstrasse überquert, stehen wir mitten im Forst. Es überrascht, wie wild und ungezähmt sich dieser bereits nach wenigen Metern präsentiert. Auffallend ist auch, dass nur noch vereinzelte Zivilisationsgeräusche an unser Ohr dringen. Was verdeutlicht: Hier hat die Natur das Sagen. Da wir unter der Woche im Sihlwald sind, hält sich das Besuchsaufkommen in Grenzen. Wir treffen ein paar «Hündeler», drei Biker und einen Ranger auf seiner Tour – mehr nicht.
«Hier lässt sich gut erkennen, dass Totholz – ausser es versperrt den Weg – bei uns liegen gelassen wird», sagt Mirella Wepf und deutet auf gefallene Baumstämme, die von Moos überwuchert sind. «An diesem Ort darf der natürliche Kreislauf seinen Gang gehen.»
Woanders erspähen wir einen Laubbaum, der auf den ersten Blick intakt scheint, aber vom Zunderschwamm befallen ist – einer Pilzart, die insbesondere Buchen schwächt. «An diesem Standort konnte unlängst der Kerbhalsige Zunderschwamm-Schwarzkäfer nachgewiesen werden, der schweizweit als fast ausgestorben galt», fügt Wepf an. Die Spezies lebt ausschliesslich in ursprünglichen Naturgebieten.
Darbende Fichten
Kurz darauf passieren wir eine Wegstelle, an der die Ranger augenscheinlich ihre Säge angesetzt haben, um ein meterlanges Stück Baumstamm zu entfernen. Womit sich der Weg wieder gefahrlos begehen lässt und wir an darbenden Fichten vorbeikommen. «In den letzten fünf Jahren ist der Fichtenbestand im Sihlwald um rund 30 Prozent zurückgegangen», erklärt Wepf. «Die zunehmend heissen und trockenen Sommer setzen dieser Baumart zu. Fichten wachsen eigentlich an höher gelegenen, kühleren Standorten. Hier wurden sie künstlich angepflanzt.»
Zwar tue sich auch die Buche mit den steigenden Temperaturen schwer, da der Sihlwald viel Schatten bietet, könne sich diese Art bislang recht gut halten. «Dies ganz im Gegensatz zur Esche, die derzeit schweizweit einer aus Ostasien eingeschleppten Pilzerkrankung zum Opfer fällt.» Auf dem Weg weiter in den Wald hinein begegnen wir unversehens einem durchlöcherten Baumstumpf. «Das ist das Werk von Schwarzspechten», erläutert die Expertin und ergänzt, dass auch einst ausgerottete Tierarten, zu denen unter anderen der Rothirsch gehört, wieder zunehmend Spuren im Sihlwald hinterlassen. «In den vier Jahren seit ich für die Stiftung Wildnispark Zürich arbeite, ist der Sihlwald sichtlich wilder geworden», konstatiert Mirella Wepf und verweist auf einen überwucherten Weg: «Bald wird nicht mehr zu erkennen sein, dass das ein Pfad war.»
Auf die Frage, wie sich ihr Blick auf den Naturerlebnispark seit ihrem ersten Arbeitstag verändert habe, sagt sie: «Mit jeder Erkundungstour begeistert mich dieser wilde Wald mehr!» Mittlerweile sind wir bei der Feuerstelle Tannboden angelangt, auf 601 Meter über Meer. Womit wir uns der speziell geschützten Kernzone des Sihlwalds nähern, wie die auf diversen Bäumen mit roter Farbe angebrachten Hinweise anzeigen.
Habicht und Bussard
Langsam ist der Zeitpunkt gekommen, sich wieder auf den Rückweg zu begeben. Zuvor machen wir noch eine kurze Exkursion zum Rooseveltplatz. Dieser wird so genannt, weil Eleanor Roosevelt, die Witwe des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, diese Stelle 1948 besuchte und dabei die heute über 200 Jahre alten Buchen bewunderte. Es würde mehrere Menschen erfordern, um die mächtigen Buchenstämme zu umfassen. Ein eindrücklicher Moment, zumal gleichzeitig der Ruf eines Greifvogels erklingt. «Ein Bussard», mutmasst Mirella Wepf. «Manchmal hört man hier aber auch Habichte»
Die Strecke zurück zum Bahnhof nimmt weniger lange in Anspruch als der Hinweg. Dennoch bleibt genügend Zeit, um die hier gemachten Eindrücke nachwirken zu lassen. Und je länger man sich im Sihlwald aufhält, desto mehr gibt es zu entdecken – da ein Rascheln, dort ein Krabbeln oder Zwitschern. Dabei eröffnet sich eine urwüchsige Welt, in die sich wunderbar eintauchen lässt. Und als der Moment da ist, sich wieder vom Sihlwald zu verabschieden, steht bereits fest: Wir kommen, keine Frage, gerne wieder.
Mirella Wepf
Mirella Wepf ist als freie Journalistin im Bereich Umwelt tätig und arbeitet seit 2020 Teilzeit beim Wildnispark Zürich.
«Toll, dass der Sihlwald gut an den ÖV angebunden ist»
Ranger Thomas Wäckerle kennt den Sihlwald wie seine Westentasche, obschon sich dieser kontinuierlich verändert. Im Naturerlebnispark gehört es zu seinen Aufgaben, die Besuchenden auf geltende Regeln hinzuweisen und nach dem Rechten zu schauen.
Interview lesen