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«Je knapper wir einen Zug verpassen, desto gestresster fühlen wir uns.»

Unpünktlichkeit gilt nicht nur als unhöflich, sondern wird auch als respektlos empfunden. Psychologin Gina Auf der Maur erklärt, weshalb manche Menschen zur Unpünktlichkeit neigen und was in uns vorgeht, wenn wir zu spät zu einem Termin kommen.

Mit der Aufklärung kamen um 1700 auch die sogenannt Bürgerlichen Tugenden auf. Zu diesen zählte nebst Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiss und Reinlichkeit auch die Pünktlichkeit. Wertvorstellungen, die vom aufstrebenden Bürgertum hochgehalten wurden, um sich gegenüber dem Adel zu emanzipieren. Dies sowohl in kultureller als auch wirtschaftlicher Hinsicht. Mit dem Aufkommen der postindustriellen Gesellschaft, die nicht zuletzt vom «Zeit ist Geld»-Gedanken geprägt ist, hat sich die gesellschaftliche Relevanz der Pünktlichkeit nochmals verstärkt. Unpünktlichkeit gilt als unhöflich. Und eine Verspätung, die eine gewisse Toleranzgrenze überschreitet, wird als Respektlosigkeit wahrgenommen.

Gleichwohl ist jeder von uns schon mehrfach zu spät gekommen. Auch der Psychologin Gina Auf der Maur, die in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofes arbeitet und aus dem Thurgau pendelt, widerfährt das bisweilen. «Ich neige dazu, kurz vor knapp aus dem Büro loszugehen. Letzte Woche nahm ich mir vor, den Zug um halb fünf zu erwischen, doch es wurde eine Stunde später», erinnert sie sich. Schon seit einiger Zeit nehme sie sich vor, zukünftig nicht mehr hektisch in Richtung Bahnhof zu eilen, sondern sich entspannter auf den Heimweg zu machen. «Ein Feierabendritual könnte hier helfen. Nur den Blick auf die Uhr zu halten, reicht bei mir leider nicht.»

Besser fünf Minuten zu früh

«Im beruflichen Kontext ist es besser, bereits fünf Minuten vor dem Termin zu erscheinen. Bei internen Meetings empfiehlt es sich, spätestens punktgenau vor Ort zu sein», sagt Auf der Maur mit Blick auf die heute geltenden Erwartungen an die Pünktlichkeit. Handelt es sich um ein privates Treffen, liegt laut ihr eine Verspätung von fünf Minuten im Toleranzbereich. «Und trifft man sich als Gruppe in einem Restaurant, darf es allerhöchstens auch einmal eine Viertelstunde sein.» Die Expertin rät: «Zeichnet sich eine Verspätung ab, sollte man sein Gegenüber allerdings so rasch wie möglich darüber informieren.» Insgesamt ist es also ratsamer, etwas vor dem Termin da zu sein. Eine Ausnahme gibt es: private Einladungen. Bei diesen gilt ein zu frühes Erscheinen eher als unangebracht.

Doch woran liegt es, dass es Menschen gibt, die notorisch unpünktlich sind? «Fakt ist, dass die innere Uhr nicht bei allen gleich gut eingestellt ist», weiss Auf der Maur. Viele der Betroffenen seien nicht gut organisiert, andere geraten bei ihren Tätigkeiten in einen Flow, worüber sie die Zeit vergessen.» Gemäss Studien würden 40 Prozent der Menschen unter einem Planungsfehlschluss leiden. «Sie unterschätzen gewohnheitsmässig die Zeit, die sie für Aktivitäten benötigen. Etwa, um ein Mail zu schreiben oder um eine bestimmte Wegstrecke zurückzulegen.» Ihr Tipp: Wer sich zu dieser Gruppe zählt, sollte bei seinen Tätigkeiten von vorne herein 30 Prozent mehr Zeit einrechnen, als es das eigene Gefühl besagt.   

Revolution wider die Pünktlichkeit

Laut Auf der Maur können wiederkehrende Verspätungen mitunter auf ein mangelndes Selbstwertgefühl hindeuten. «Kommt jemand unpünktlich zu einem Meeting, dann richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf diese Person. Vor allem, wenn sie zusätzlich laut und vernehmlich eintrifft, statt still und leise Platz zu nehmen.» Darüber hinaus existiere eine kleine Gruppe von Menschen, die sich durch Vorgaben und Pünktlichkeit eingeschränkt fühlt. «Für sie ist Zuspätkommen wie eine kleine Revolution gegen die Begleitumstände eines Termins – allerdings keine sonderlich sozialverträgliche», erläutert sie.

Erwiesen ist auch, dass Kinder ein anderes Zeitgefühl haben als Erwachsene – sie orientieren sich an Ereignissen, nicht an Zeiteinheiten. «Das ist bis zur Primarschule so und hängt auch mit der Erfahrung zusammen», erklärt Auf der Maur. Sind Teenager zu spät dran, dann dürfte dies gemäss ihr damit zu tun haben, dass diese Unpünktlichkeit bewusst in Kauf nehmen, um nicht uncool zu wirken. «Je älter der Mensch wird, desto besser ist seine Sozialkompetenz, was zum Beispiel mit sich bringt, dass wir besser nachvollziehen können, wie sich diejenigen fühlen, die wir warten lassen.» Mit der Folge, dass man bestrebt ist, eine solche Situation von vornherein zu vermeiden. 

Beruhigende Wirkung

Angesprochen auf die Frage, was in uns vorgeht, wenn wir unsere Zugsverbindung um wenige Sekunden verpassen, antwortet die Psychologin: «Je knapper es nicht klappt, desto gestresster fühlen wir uns. Und so lange man das Gefühl hat, es könnte doch noch reichen, befinden wir uns in einer akuten Anspannung.» Steht unweigerlich fest, dass der Zug respektive der Termin verpasst wird, sollte man gemäss Auf der Maur kurz in sich hineinspüren. «Klopft das Herz, zittern die Hände, rauscht es im Kopf? Derlei sollte man bewusst wahrnehmen und anerkennen, dass die Situation ist wie sie ist und man sich auch so fühlen darf, wie man sich gerade fühlt.» Das wirke beruhigend. Anschliessend solle man die durch die Verspätung betroffenen Personen benachrichtigen und sich überlegen, was mit der unverhofft zur Verfügung stehenden Zeit anzufangen sei. «Man kann zum Beispiel bei einer eher kürzeren Wartezeit auf seine Atemtechnik fokussieren, auf dem Handy einen Tageswitz lesen oder eine befreundete Person anrufen. Es ist besser, sich auf positive Dinge zu konzentrieren, als seine Zeit damit zu verbringen, sich zu ärgern.»

Stress ist ein subjektives Empfinden. Dieses kann belastend wirken und manche sogar krank machen. Leben pünktliche Menschen also nicht nur stressfreier, sondern auch gesünder? «Durch Studien ist das nicht direkt nachgewiesen worden, aber wer pünktlich ist, verfügt eher über eine verlässliche Selbstregulation, was bis ins Zeitmanagement hinein reicht», betont Gina Auf der Maur. Wer seine Ziele, seine Gefühle und Bedürfnisse besser regulieren könne, dem ergehe es in der Regel besser und derjenige sei mit seinem Leben zufriedener. «Und meistens erfolgreicher und zweifelsohne auch gesünder.» Wobei ein gewisses Mass an Stress zu unserer Existenz gehöre.

Gina Auf der Maur

Portrait Gina auf der Maur

Gina Auf der Maur

Gina Auf der Maur ist Psychologin lic. phil. Sie schult zu Prävention und Umgang mit Stress und dessen Folgen, gesunder Führung und dem Schutz der persönlichen Integrität. Auf der Maur berät Personalverantwortliche und Unternehmensführungen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement.

Fahrgaeste am Zürich HB SZU

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Eine Glosse von Slam Poet Kilian Ziegler über verspätete Züge, wichtige Termine und die schönen Seiten des Zugfahrens.

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