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«Freiwillige sind Gold wert – so sollen sie auch behandelt werden»

Freiwilligenarbeit soll Freude machen, sagt Ueli Rickenbach von benevol. Er ist verantwortlich für benevol-jobs.ch, die grösste Freiwilligenplattform der Schweiz. Vereine müssten auf die veränderten Bedürfnisse neuer Freiwilliger eingehen.

Ueli Rickenbach, sind Menschen, die Freiwilligenarbeit leisten, Held:innen des Alltags?

Alle sind Helden, die sich für andere einsetzen. Freiwilligenarbeit zu leisten, ist aber auch ein Privileg: Alle, die Ressourcen dafür haben, sollten diese auch einsetzen.

Was würde passieren, wenn alle Freiwilligen von einem Tag auf den andern ihre Arbeit ruhen lassen würden?

Das würde die Schweiz massiv verändern. Mögliche Folgen wären soziale Verarmung, denn Freiwilligenarbeit leistet viel für die Lebensqualität etwa von älteren Personen, aber auch von Menschen im Asyl- oder im Behindertenbereich. Sporttrainings würden ausfallen und unzählige kulturelle Anlässe wie Festivals, Konzerte oder Theater fänden nicht statt.

Warum hat Freiwilligenarbeit in der Schweiz eine so lange Tradition?

Die Schweiz ist ein Land der Vereine. Aufgrund günstiger rechtlicher Rahmenbedingungen existieren heute rund 100’000 Vereine. Im 19. Jahrhundert waren es häufig Frauen, die sich zahlreichen karitativen Tätigkeiten widmeten: Sie engagierten sich in Frauen- und Samaritervereinen. Die veränderten Lebens- und Arbeitsmodelle haben das heute verändert.

Weiss man, wie viele Menschen in der Schweiz Freiwilligenarbeit leisten?

Mindestens zwei von fünf Personen leisten Freiwilligenarbeit – formell oder informell. Die Zahlen stammen vom Bundesamt für Statistik aus dem Jahr 2020. Formell bedeutet, dass die Person in einer Freiwilligenorganisation für andere aktiv tätig ist; informell bedeutet, dass man eher im niederschwelligen Bereich engagiert ist und zum Beispiel Nachbarschaftshilfe in einem anderen Haushalt leistet. Würde man unter anderem auch die Betreuung von Enkeln und die Pflege von eigenen Angehörigen dazunehmen, käme man auf fast 96 Prozent der Bevölkerung. 

Warum leisten viele von uns Freiwilligenarbeit in einer der oben genannten Arten?

Wir wollen mit anderen zusammen etwas bewirken, im Austausch mit anderen Menschen sein und dazugehören. In erster Linie soll Freiwilligenarbeit Freude machen. In zweiter Linie möchten Freiwillige helfen und der Gesellschaft etwas zurückgeben. Finanzielle Anreize kommen erst als letztgenannte Gründe zum Tragen. 

Wer sich sozial engagiert, profitiert also auch selbst?

Genau. Freiwilligenarbeit ermöglicht einem, lebenslang dazuzulernen, sich selbst neu zu entdecken und sich in einem anderen Umfeld als selbstwirksam zu fühlen. Das trägt zur Lebensfreude bei und ist auch motivationsfördernd.

Nimmt die Bereitschaft für Freiwilligenarbeit ab?

Das kann man nicht generell behaupten. Statistiken deuten darauf hin, dass sich die Freiwilligenarbeit von der formellen hin zur informellen entwickelt. Menschen sind zudem weniger bereit, sich langfristig zu engagieren. Bis heute gibt es Freiwilligenlaufbahnen, in denen jemand 30 oder 40 Jahre im Vorstand eines Vereins tätig war. Dies wird sich in Zukunft verändern. Andere – informelle Formen wie Nachbarschaftshilfen – erhalten dafür Auftrieb. Auch entstehen neue Gefässe wie digitale Freiwilligenarbeit.

Was verstehen Sie darunter?

Schreibdienste für nicht schreib- oder deutschkundige Personen können neu dezentral durchgeführt werden. Vorstandstätigkeiten können national über digitale Kanäle und Mittel ausgeübt werden. Mitarbeit an Webseiten-Projekten, Social-Media-Arbeit, Open Street Map oder Wikipedia sind andere Beispiele für digitale Freiwilligenarbeit.

Es ist also einiges im Tun?

Ja, benevol empfiehlt Vereinen, sich den heutigen Umständen anzupassen. Statt sich über fehlende Aktive zu beklagen, müssen sich Vereine auf aktuelle Umstände einstellen. Die Sinnfrage steht für viele Freiwillige stärker im Vordergrund. Darum ist es wichtig zu kommunizieren, welche Wirkung die Vereinsprojekte haben. Jede Freiwillige, jeder Freiwillige ist Gold wert – und so müssen sie auch behandelt werden. Das sollten die Vereine bereits beachten, wenn sie neue Freiwillige suchen: Die Freiwilligen müssen wertgeschätzt und begleitet werden.

Wie findet man heutzutage überhaupt noch Freiwillige?

Freiwillige möchten angefragt werden. Überraschend viele Menschen wären gemäss Umfragen an sich bereit zu helfen. Projekte mit Wirkung und einem direkten Lebensbezug zu den Freiwilligen haben auch heute grosse Chancen, aktive Freiwillige anzuziehen.

Finden Sie, dass Freiwilligenarbeit bezahlt sein müsste?

Wenn jede Freiwilligenarbeit bezahlt werden müsste, wäre dies finanziell schlicht nicht umsetzbar. Bei Entschädigungen stellen sich bald Fragen arbeitsrechtlicher, steuertechnischer und vorsorgetechnischer Art. Gemäss benevol-Standards ist Freiwilligenarbeit nicht bezahlt. Allerdings sollten Spesen entschädigt werden: Wer freiwillig tätig ist, soll nicht auch noch Geld dafür aufwenden müssen. 

Wo werden besonders dringend Freiwillige gesucht?

Auf benevol-jobs.ch werden Freiwillige vor allem in den Bereichen Integration und Soziales, Besuchen und Begleiten gesucht. Das Gute ist: Genau in diesen Bereichen möchten sich auch viele Menschen engagieren. Schwieriger zu besetzen sind hingegen langfristige und leitende Freiwilligeneinsätze etwa in den Bereichen Finanzen und Kommunikation, für die man sich fünf-, sechsmal jährlich zu einer Vereinssitzung treffen muss. 

Sind Menschen in Krisenzeiten eigentlich hilfsbereiter?

Das Bedürfnis zu helfen wird grösser, das haben wir beim Beginn des Ukraine-Kriegs festgestellt. Noch deutlicher zeigte es sich während der Corona-Pandemie. Nie haben sich mehr Freiwillige auf benevol-jobs.ch registriert. Alle haben nach Möglichkeiten gesucht, in irgendeiner Form zu helfen. 

Haben wir auch an Weihnachten ein grösseres Herz?

Unsere Nutzerstatistik zeigt, dass sich viele Menschen in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr für Freiwilligenarbeit interessieren. Die Menschen ziehen in dieser Zeit vermutlich Bilanz oder nehmen sich Vorsätze fürs neue Jahr. Man hat dann auch die Musse, auf unserer Website zu surfen und sich ein Freiwilligenprofil anzulegen. Auch an Regentagen haben wir mehr Zugriffe auf benevol-jobs.ch, ebenso nach den Sommerferien.

Es muss ja nicht immer ein Amt im Vereinsvorstand sein. Wie kann man im Kleinen Gutes tun?

Man kann Nachbarschaftshilfe leisten, an einem kulturellen Anlass mithelfen oder etwas spenden. Wer die Augen offen hält, sieht schnell, wo Engagement möglich ist.

Sie sind als Produktmanager von benevol-jobs.ch angestellt. Leisten Sie in Ihrer Freizeit auch Freiwilligenarbeit?

Ich übte bereits verschiedene Tätigkeiten aus: Als Pfadfinderleiter, war im Vorstand eines Chors und als Tixi-Fahrer aktiv. Ich freue mich nun darauf, nach der intensiven Zeit mit kleineren Kindern bald wieder mehr freiwillig sein zu können – bis zur Pensionierung warte ich damit sicher nicht. 

Ueli Rickenbach

Ueli Rickenbach von benevol

Ueli Rickenbach

Ueli Rickenbach ist Produktmanager bei benevol-jobs.ch, der grössten Freiwilligenplattform der Schweiz. Seit 2019 hat benevol-jobs.ch über 20'000 Freiwillige direkt digital vermittelt. Der 46-Jährige ist in der Stiftung benevol St. Gallen unter anderem auch zuständig für benevol Zürich Oberland. Benevol Schweiz ist die Dachorganisation der regionalen benevol Fachstellen für freiwilliges Engagement in der Deutschschweiz.

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