Zurück

Interview mit Marc Wittmann

Im Interview erklärt der Zeitforscher Marc Wittmann, weshalb er selbst darauf achtet, pünktlich zu sein, wie wir Zeit wahrnehmen und weshalb Langeweile durchaus ein Genuss sein kann.

Herr Wittmann, würden Sie sich als einen pünktlichen Menschen bezeichnen?

Ich würde mich selbst als sehr pünktlich bezeichnen.

Wie gelingt Ihnen Pünktlichkeit?

Die subjektive Zeitwahrnehmung ist bei jedem Menschen variabel. Sie hängt von Moment zu Moment von seinen Emotionen und von seiner Aufmerksamkeit auf etwas ab. Wenn ich mich immer auf mein eigenes Zeitgefühl verlassen würde, würde ich dauernd zu früh oder zu spät zu einem Termin kommen. Ein Termin jedoch ist ein soziales Erfordernis, wofür ich mich an der Uhr orientieren muss. Wenn kein äusserer Umstand wie beispielsweise ein verspäteter Zug dazwischenkommt, hängt Pünktlichkeit ganz einfach von mir ab und davon, wie oft ich auf die Uhr schaue.

Aus welchem Grund sind Sie pünktlich?

Einerseits gibt es den sozialen Aspekt. Pünktlichkeit macht mich zu einem verlässlichen Gegenüber. Je nach Motivation verändert sich der Grund, warum man pünktlich sein will. Bei einem wichtigen Rendez-vous ist man überpünktlich, wahrscheinlich eher zu früh. Zur Besprechung mit einem lästigen Kollegen ist es einem hingegen egal, wenn das Tram verspätet ist und man ein bisschen zu spät kommt.

Andererseits minimiert Pünktlichkeit auch Stress. Allerdings muss man hier unterscheiden: An einem Arbeitstag mit vielen Terminen sorgt Pünktlichkeit für Entspannung. Bei der Arbeit sind wir terminorientiert, da hilft zeitliche Struktur und das Einhalten von Zeitfenstern. Anders ist es in den Ferien. An freien Tagen geht es darum, sich treiben zu lassen, fernab der Uhrzeitorientierung. Termine würden in diesem Fall unserer Entspannung zuwiderlaufen.

Sie arbeiten als Zeitforscher. Was ist darunter zu verstehen?

In meiner Forschung stelle ich mich den Fragen, wie wir zu unserem Gefühl von Zeit kommen und welche Faktoren dieses beeinflussen. Dies sowohl vor einem psychologisch-neurowissenschaftlichen Hintergrund als auch von philosophischen Konzepten ausgehend. Ich untersuche an Probanden etwa solche Sachverhalte: Wie fühlt es sich an, wenn ich im Moment wahrnehme, wie die Zeit vergeht? Wie kommt es dazu, dass ich mir der Zeit gewahr werde? Dabei ergeben sich unter anderem Aspekte, die bewirken, dass sich die Zeit gefühlsmässig dehnt oder zusammenzieht. Ausserdem untersuche ich den Zeitverlauf über eine längere Zeitspanne: Welche Zusammenhänge machen es aus, dass mir ein Jahr als schnell vergangen vorkommt? Dies schliesst an die Frage an, wie die eigene Lebenszeit verläuft. Diese rührt an Existentielles und Sinnstiftendes.

Heisst das, dass Sie philosophische Konzepte auf einer psychologischen Ebene überprüfen?

Ja, in gewisser Weise betreibe ich empirische Philosophie, also Philosophie, die auf Erfahrung beruht. Beginnen wir mit dem Umstand, dass unsere Sprache für die Zeit ein Wort gefunden hat. Doch die sprachliche Substantivierung schafft aus der Zeit dennoch keinen Gegenstand. Das Zeitgefühl speist sich unter anderem daraus, dass der Gedanke an meine Zukunft und die Erinnerung an meine Vergangenheit in der Gegenwart enthalten sind. In der Phänomenologie des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) finden sich Beschreibungen vom Erleben der Gegenwart, in denen deutlich wird, dass die Zeit etwas mit uns selbst zu tun hat. Diese Erkenntnis Merleau-Pontys passt zu meinen Befunden. Denn der subjektiv gefühlte Moment ist mit der Insula – das ist ein Teil der Grosshirnrinde – gekoppelt. Das konnte ich mit der MRT-Forschung belegen. Die Insula nimmt alle Signale des Körpers wie etwa Durst, Kälte oder Hunger auf. Auf die Signalverarbeitung der Insula, dass mir kalt ist, erfolgt dann unser intuitives Reagieren, zum Beispiel, dass wir einen Pullover über das T-Shirt ziehen. Wir erleben Zeit über die ständige Aufnahme von Körpersignalen. Ich kann die Augen schließen und die Ohren verstopfen, trotzdem nehme ich die Zeit wahr, über den Körper, der ständig da ist.  Man kann sagen, ich selbst mit meinem Körper bin die Zeit.

In einem Interview haben Sie gesagt: «Der Verlust des Ich-Gefühls führt dazu, dass wir uns besser fühlen.» Steht dies im Widerspruch zur Behauptung, dass sich heute die Menschen mehrheitlich stark auf sich selbst konzentrieren wollen?

Wie wir die Zeit wahrnehmen, hängt damit zusammen, was wir gerade erleben und tun. Normalerweise richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Zeit. Aber wenn wir uns langweilen oder warten, dann fühlen wir uns selbst, und die Zeit vergeht langsam. Eigentlich könnte man meinen, dass dies ja perfekt sei, weil wir dann mehr vom Leben haben. Denn manchmal bedauern wir, dass die schöne Ferienzeit schon wieder rum ist. Wenn wir im Flow sind und viel Neues erleben, vergessen wir die Zeit, und sie vergeht gefühlsmässig schnell. Das ist zugegeben paradox.

In der deutschen Sprache kennen wir das Wort «Muße». In dem Moment vergeht die Zeit langsam, aber auf eine angenehme Weise, denn ich fühle mich gut dabei. Das kann an einem Sonntagnachmittag passieren. Auch wird die «Muße» als ein Moment der Ehrfurcht beschrieben, wenn ich mich ganz im Hier und Jetzt befinde. Aber dieses Zeitgefühl kann man nicht bewusst einfordern, es überkommt einen.

In welcher Hinsicht können wir unser Zeitgefühl doch beeinflussen?

Je mehr ich erlebe, desto länger kommt mir die Zeit im Rückblick vor. Die Emotionen spielen bei der Erinnerung eine grosse Rolle, denn Emotionen sind der Klebstoff für das Gedächtnis. Wenn ich die Tage in Gewohnheiten verbringe, vergeht die Zeit sehr schnell. Wenn Sie hin und wieder aus der Routine ausbrechen oder sich neu positionieren im Leben, ist im Rückblick die Zeit langsamer vergangen.

Was empfehlen Sie Menschen, die chronisch unpünktlich sind?

Kaufen Sie sich eine Uhr! Aber die pünktlichen sind nicht die glücklicheren Menschen. Sie sind zwar sehr verlässlich, aber es ist dennoch wichtig, das richtige Mass zu finden. Durch Überpünktlichkeit kann ein Korsett entstehen, in dem man nur noch Termine abarbeitet. Man denkt immer schon an die nächste Sache, ohne sich auf den Moment einlassen zu können. Wenn man im Flow ist, geniesst man beispielsweise einen Kaffee mit Freunden. Dann vergisst man die Zeit. Gefährlich kann das für den nächsten wichtigen Termin sein. Hier bewegen wir uns zwischen zwei Polen: Einerseits sollen wir unsere Lebenszeit geniessen können, andererseits müssen wir auch Verpflichtungen nachkommen.

Marc Wittmann

Portrait Marc Wittmann

Marc Wittmann

Marc Wittmann ist Forscher für Zeitwahrnehmung am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg im Breisgau.

Uhr

Die pünktliche Schweiz

In den nächsten Monaten beleuchten wir, gemeinsam mit unserer Community, die Themen «Verlässlichkeit» und «Pünktlichkeit» aus verschiedenen Perspektiven. Hier erfährst du, weshalb wir das machen und was es mit diesen Themen auf sich hat.

Artikel lesen