Die Analyse der Fahrgastströme gehört heute zu jedem Bahnhofsprojekt. Warum eigentlich?
Elena Odermatt: Die Analyse der Fahrgastströme stellt eine wichtige Grundlage für die Planung, die Gestaltung und den Betrieb eines Bahnhofs dar. Sie zeigt, wie viele Personen sich wann und wo bewegen, wie Engpässe vermieden und wie die Wege und die Aufenthaltsqualität optimiert werden können. Die Analyse ist entscheidend für eine bedarfsgerechte, sichere und benutzerfreundliche Gestaltung eines Bahnhofs. Sie legt quasi das Fundament dafür, dass ein Bahnhof weit in die Zukunft hinaus funktioniert und effizient betrieben werden kann.
Anhand welcher Daten berechnen Sie die Fahrgastströme an Bahnhöfen?
Elena Odermatt: Wir berechnen die Fahrgastströme anhand eines Prognosemodells, das auf dem heutigen Verhalten der Reisenden basiert und künftige Entwicklungen berücksichtigt, etwa das Bevölkerungswachstum oder den Ausbau des Angebots. Die Zahlen beziehen wir meistens von den Bahnbetreibern: Diese benutzen verschiedene Methoden, um die Daten zu generieren, führen zum Beispiel klassische Zählungen durch, nutzen Sensoren oder anonymisierte Videoanalysen. Hinzu kommen anonymisierte Mobilitätsdaten, die über Ticketing-Systeme oder Apps gewonnen werden, oder Beobachtungen vor Ort und Befragungen. Als Resultat erhalten wir ein differenziertes und zuverlässiges Bild der Personenflüsse. Dieses dient uns als Basis, um die Anforderungen zu definieren, die bei einer Planung – zum Beispiel für einen Ausbau – berücksichtigt werden sollten.
Gibt es in Bezug auf Fahrgastströme einen Unterschied zwischen unterirdischen und oberirdischen Bahnhöfen?
Martin Ellwanger: Ja, unterirdische und oberirdische Bahnhöfe unterscheiden sich deutlich – gerade in Bezug auf die Fahrgastströme. Ein wichtiger Unterschied ist die vertikale Erschliessung: In unterirdischen Bahnhöfen müssen die Reisenden mehrere Ebenen überwinden – über Treppen, Rolltreppen oder Lifte. Das wirkt sich schnell auf die Geschwindigkeit und auf die Verteilung der Fahrgäste aus. Zu Spitzenzeiten oder bei Störungen entstehen dadurch schneller Engpässe als bei oberirdischen Bahnhöfen, wo die Wege meist direkter und intuitiver sind.
Ein weiterer Unterschied ist die Orientierung: Unterirdisch fehlt oft der visuelle Bezug zur Umgebung. Daher sind klare Wegweiser und durchdachte Leitsysteme wichtig, um Staus oder Umwege zu vermeiden. Das ist besonders kritisch bei Grossanlässen wie einem Fussballspiel oder einem Konzert, aber auch bei Betriebsstörungen.
Hinzu kommt: Der Platz im Untergrund ist oft eingeschränkt durch bestehende Bauten, Leitungen oder die Geologie. Ein Ausbau des Bahnhofs oder neue Zugänge sind deshalb meist technisch aufwendig und kostspielig. Oberirdische Bahnhöfe bieten oft deutlich mehr Flexibilität.
Gibt es auch Vorteile von unterirdischen Bahnhöfen?
Martin Ellwanger: Ja, definitiv. Unterirdische Bahnhöfe bieten viele Vorteile, insbesondere im stark frequentierten städtischen Gebiet, wo der Platz beschränkt ist, wie im Hauptbahnhof Zürich. Mit einem unterirdischen Bahnhof benötigen wir weniger Raum an der Oberfläche, entlasten damit den Stadtraum und schaffen Freiräume für die Stadtentwicklung, für Grünflächen und Fussgängerzonen. Zudem lassen sich unterirdische Bahnhöfe sehr gut mit anderen öffentlichen Verkehrsmitteln wie Tram oder Bus verknüpfen. Dadurch entstehen kurze Umsteigewege, die für Reisende attraktiv sind.
Wo sehen Sie die häufigsten Engpässe bei Fahrgastflüssen in Bahnhöfen?
Elena Odermatt: Die häufigsten Engpässe entstehen typischerweise auf den Perrons bei den Zugängen zu den Über- oder Unterführungen. Rampen, Treppen, Rolltreppen und Lifte sind immer die kritischsten Punkte, weil es hier vor allem zu Spitzenstunden zu Rückstau kommt. Aber auch im Raum zwischen Gleisen und den Zugängen kann es zu Engpässen kommen. An solchen Stellen könnten Reisende unter Umständen zu nahe an die Perronkante gelangen. Das kann gefährlich werden, besonders bei grossem Andrang und bei Zugdurchfahrten. Deshalb ist es so wichtig, die Bewegungen der Menschen im Bahnhof frühzeitig zu verstehen und genügend Platz dafür zu planen – mit klarer Wegführung und guter Übersicht.
Welche Rolle spielt das Verhalten der Reisenden?
Elena Odermatt: Das Verhalten der Reisenden ist entscheidend für den Personenfluss. Menschen wählen oft den gewohnten oder kürzesten Weg – selbst wenn es eine bessere Alternative gibt. Wenn ein Zugang schlecht ausgeschildert oder der Weg dorthin unattraktiv ist, wird er kaum genutzt. Reisende verhalten sich zudem anders, wenn sie in Gruppen unterwegs sind. An grösseren Bahnhöfen spielt das eine wichtige Rolle. Grosse Gruppen oder Personen mit sperrigem Gepäck gehen langsamer oder bleiben plötzlich stehen. Das kann den Personenfluss behindern.
Deshalb berücksichtigen wir Planer:innen nicht nur die bauliche Gestaltung der Räume, sondern auch das Verhalten der Reisenden. Mit einer klaren Wegführung, verständlichen Leitsystemen und Informationen in Echtzeit können wir dafür sorgen, dass sich alle Reisenden auch in einem grossen Bahnhof wie dem Hauptbahnhof Zürich sicher und stressfrei orientieren können.
Mit welchen architektonischen Elementen lässt sich die Kapazität an Bahnhöfen steigern?
Martin Ellwanger: Die bauliche Gestaltung hat grossen Einfluss darauf, wie gut ein Bahnhof funktioniert – besonders an stark frequentierten Orten wie dem Zürcher Hauptbahnhof, wo täglich über 400'000 Menschen unterwegs sind. Wichtig sind vor allem breite Perrons und Zugänge sowie zusätzliche Wege, welche die stark genutzten Bereiche entlasten. Wenn Perrons und Zugänge breit gebaut werden, entsteht weniger Gedränge. Die Reisenden können sicherer ein- und aussteigen. Neue Unterführungen oder direkte, gut sichtbare Ausgänge helfen, die Menschen besser zu verteilen. So verhindert man, dass sich Personen an den immer gleichen Stellen stauen. Die Architektur beeinflusst auch, wie angenehm und sicher ein Bahnhof wahrgenommen wird. Wenn die architektonische Gestaltung offen, hell und übersichtlich ist, fällt die Orientierung leichter und die Reisenden lassen sich gezielter lenken.
Beim Ausbau des Zürich HB SZU werden genau diese Prinzipien umgesetzt. Neue Verbindungen und klar strukturierte Wege verbessern die Orientierung und sorgen dafür, dass das steigende Fahrgastaufkommen auch in Zukunft sicher bewältigt werden kann.
Was bringt mehr Kapazität: Umbauten oder clevere Steuerung der Fahrgastströme?
Martin Ellwanger: Beides ist wichtig – den grössten Effekt bringt jedoch das Zusammenspiel von baulichen Massnahmen und cleverer Steuerung. Umbauten wie breitere Perrons oder neue Verbindungen schaffen die nötige räumliche Kapazität. Doch erst durch eine gezielte Lenkung der Fahrgäste – etwa mittels klarer Wegführung– lässt sich das volle Potenzial der Infrastruktur ausschöpfen. Kurz gesagt: Der Umbau schafft Platz, die clevere Lenkung nutzt ihn optimal.
Wie gelingt der Spagat zwischen Aufenthaltsqualität und effizienten Personenflüssen?
Martin Ellwanger: Aufenthaltsqualität und effiziente Personenflüsse müssen sich nicht widersprechen, im Gegenteil: Wenn Menschen genug Platz haben, sich intuitiv und schnell zurechtfinden, fühlen sie sich automatisch sicher und wohl. Der Schlüssel liegt hier im Zusammenspiel von baulicher Gestaltung und Kundenlenkung. Wenn Laufwege, Wartezonen, Geschäfte und Sitzbereiche voneinander getrennt sind und die Wege klar und direkt sind, lassen sich die unterschiedlichen Bedürfnisse miteinander vereinbaren, sodass die Bahnhofsnutzenden sich nicht gegenseitig behindern.
Bahnhöfe entwickeln sich immer mehr zu Verkehrsknotenpunkten mit Zentrumsfunktion. Wie beeinflusst diese Entwicklung die Planung von Personenflüssen?
Elena Odermatt: Die Anforderungen an die Planung der Personenflüsse sind vielfältiger geworden. Der Bahnhof ist heute weit mehr als ein Ort zum Ein- und Aussteigen – er ist ein urbanes Zentrum, Treffpunkt, Freizeitraum und Veranstaltungsort. Am Hauptbahnhof in Zürich ist dieser Wandel deutlich sichtbar geworden. Wir planen heute nicht mehr nur für Reisende, sondern für alle Personen, die den Bahnhof als Treffpunkt, Arbeitsort, Einkaufsstätte oder Durchgangsort nutzen. Zudem sind Bahnhöfe nicht mehr nur zu Pendlerzeiten stark frequentiert – auch am Wochenende und oft rund um die Uhr herrscht Betrieb. Diese Vielfalt verlangt eine vorausschauende Planung. Wir müssen so planen, dass der Bahnhof den ganzen Tag über funktioniert und auch zu Spitzenzeiten, bei Baustellen oder Störungen flexibel nutzbar bleibt.