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Dauerstress schadet der Gesundheit

Birgit Kleim, Professorin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Zürich, erklärt, welche Auswirkungen Stress auf Körper und Psyche haben kann.

Was ist eigentlich Stress?

Stress ist nicht immer objektiv messbar. Es handelt sich vielmehr um ein subjektives Erlebnis einer besonderen Anforderung, die zu Unbehagen und Anpassungsschwierigkeiten führen kann. Vor allem, wenn deren Bewältigung für Belastungen sorgt, die über die eigenen Ressourcen hinausgehen. Ausgelöst werden kann Stress durch unterschiedliche Faktoren, wie persönliche Umstände, berufliche Anforderungen, zwischenmenschliche Konflikte oder finanzielle Probleme. Belastende Lebenssituationen, wie beispielsweise Mobbing, Arbeitsplatzverlust, Trennung oder auch traumatische Ereignisse wie ein Unfall, eine schwere Erkrankung, Gewalterfahrung oder der Tod eines nahestehenden Menschen sind meist mit einem höheren Stresserleben verbunden. Aber jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf Druck. Ob dieser als belastend empfunden wird, hängt von der eigenen Wahrnehmung und Bewertung und somit von persönlichen Einstellungen und Erfahrungen ab. Sowie von der Fähigkeit, mit Stress umzugehen.

Gibt es auch gesunden Stress?

Hans Selye, einer der bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet, hat gesagt: «To be totally without stress, is to be dead.» Das heisst Stress gehört zu unserem Leben. Lampenfieber bei Auftritten etwa oder Erfolgsdruck bei Prüfungen sind für jeden Menschen belastend, aber gut bewältigbar. Viele empfinden derlei Situationen sogar als motivierend, weil sie den Stoffwechsel ankurbeln, alle Energiereserven mobilisieren und kurzfristig die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit verbessern. Dies hat Selye als «gesunden» Stress oder Eustress bezeichnet.

Und was passiert dabei im Körper?

Der Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt: Er stellt sich auf eine akute Gefahrensituation ein und bereitet sich durch biochemische Prozesse auf eine «Flucht oder Kampf»-Reaktion vor. Dabei handelt es sich um ein unwillkürliches Verhaltensmuster, das sich im Lauf der Evolution entwickelt hat. Dieses kann kurzfristig nützlich sein, um schnell reagieren zu können: Hormone wie etwa Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Hierdurch steigen Atem- und Herzfrequenz sowie Blutdruck, die Muskeln spannen sich an und Glukose wird freigesetzt. Der Einfluss des präziser und langsamer arbeitenden Grosshirns wird zurückgedrängt und anstelle dessen das schneller, aber schematischer reagierende Stammhirn genutzt. Um Ressourcen zu sparen, werden die Magendarmtätigkeit und die Sexualfunktionen eingeschränkt.

Welche kurzfristigen Auswirkungen hat Stress auf den Menschen?

Die Anzeichen von Stress sind sehr unterschiedlich. Dazu gehören etwa Schweissausbrüche, Verspannungen, Schlaf- sowie Ess- und Verdauungsstörungen, Nervosität, Reizbarkeit sowie Angst. Sobald der Auslöser beseitigt ist, stellt sich normalerweise wieder schnell eine Besserung ein. Wenden die Betroffenen effektive Stressbewältigungstechniken an und bieten dem Körper genügend Entspannungs- und Erholungsphasen, lässt sich der Stress auch physisch verarbeiten und abbauen.

Was sind die Folgen von permanentem Stress, sogenanntem Disstress?

Wer etwa am Arbeitsplatz häufig Überforderung erlebt oder in anderen Lebensbereichen eine Situation über längere Zeit als unkontrollierbar empfindet und nicht rechtzeitig gegensteuert, dem kann der Stress dauerhaft schaden. Denn Disstress vermindert die Lebensqualität und ist ein starker Risikofaktor für chronische Erkrankungen bis hin zum gleichzeitigen Auftreten von mehreren Krankheiten. Ist der Puls dauerhaft erhöht, kann dies zu Herzkreislauferkrankungen führen. Bei ständig hohem Blutzucker kann sich Diabetes entwickeln. Die Ausschüttung von Cortisol wirkt zunächst entzündungshemmend. Wird der Körper aber dauerhaft in Alarmbereitschaft versetzt, schwächt dies das Immunsystem und der Organismus wird anfälliger für Infektionen und Entzündungen. Die Einschränkung der Magendarmtätigkeit kann etwa eine Refluxkrankheit oder ein Reizdarmsyndrom zur Folge haben. Muskelverspannungen können zu Kopf- und Rückenschmerzen führen.

Und wie sieht es mit der Psyche aus?

Bleibt das Gehirn durch Dauerstress in Übererregung, kann das Cortisol neurobiologische Funktionen gefährden und sogar der Verlust von neuronalem Gewebe bewirken. Bei traumatischen Ereignissen leiden etwa besonders die Hirnregionen Präfrontalcortex und Hippocampus. Dadurch kommt es zu Einbussen in der Gedächtnisleistung. Zudem kann negativer Stress zu psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, dem Burnout-Syndrom, Depressionen und Panikattacken bis zu Posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Bei dauerhaften Angst- und Stresszuständen besteht ausserdem die Gefahr, dass sich die aktivierten Hirnstrukturen vergrössern. Dadurch entsteht eine negative Rückkopplungsschleife, die die Reaktionen immer weiter aufschaukelt. Die Erkrankungen können chronisch werden und andere Schwierigkeiten, wie etwa den Verlust des Jobs oder von sozialen Kontakten nach sich ziehen.

Zusammen mit einer Kollegin leiten Sie seit Januar 2022 das Flagship Projekt STRESS der Hochschulmedizin Zürich. Mit welchem Ziel?

Wir schauen uns systematisch die Mechanismen von Stress und mögliche Vorhersagen zu daraus resultierendem Verhalten an. Hierzu arbeiten wir mit Kolleginnen der Grundlagenwissenschaften sowie mit Tierforschern zusammen, da häufig Tiermodelle verwendet werden. Gemeinsam möchten wir Stressrisiko und -resilienz über den gesamten Lebensverlauf hinweg untersuchen.

Gibt es bereits erste Erkenntnisse?

Die Art und Weise, wie jemand eine Situation kognitiv bewertet, also wie er oder sie ein Erlebnis verarbeitet, ist zentral dafür, ob – und wenn ja –, welche Erkrankung der- oder diejenige entwickelt. Die überwältigende Mehrheit der Betroffenen ist resilient und entwickelt keine anhaltenden Symptome. Deshalb ist es wichtig, etwa nach Gewalttaten, alle Beteiligten zu beobachten und dann gezielt die Personen zu unterstützen, die schon in den ersten Tagen oder Wochen nach dem Erlebnis anhaltend Schwierigkeiten mit dessen Bewältigung haben. Dabei kann schon reichen, dieses gemeinsam zu betrachten und festzustellen, ob man es anders interpretieren kann und dass gewisse eigene Reaktionen auch normal sind. Auf diese Weise könnte man viele spätere Erkrankungen vermeiden. Bisher sehen wir diese Personen meist erst viele Jahre danach in einer Klinik, wenn die durch Stresssituationen verursachten Probleme bereits chronisch geworden sind.

Birgit Kleim

Fahrgaeste S10

Birgit Kleim

Birgit Kleim ist Professorin für Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie am Institut für Psychologie und Psychotherapie der Universität Zürich und leitet den psychologisch-psychotherapeutischen Dienst an der Universitätsklinik Zürich. Sie widmet sich der Erforschung von Krisenkompetenz, Posttraumatischen Belastungsstörungen, der Wirkung des Schlafs bei psychischen Erkrankungen und Trauma sowie der Resilienz gegenüber chronischem Stressaufkommen.

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