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«Wer sorgfältig ist, hat das zur Hälfte geerbt»

Ein Interview zum Thema Sorgfalt von Pieter Poldervaart mit Alexander Stahlmann, Forscher am psychologischen Institut der Universität Zürich.

Frühere Generationen waren sorgfältiger als die heutige Jugend, heisst es. Wahr ist eher das Gegenteil, sagt Alexander Stahlmann. Der Forscher am Psychologischen Seminar der Universität Zürich empfiehlt zudem, sich nicht ständig verbessern zu wollen. Viel wichtiger für die Zufriedenheit im Privaten und Beruflichen sei es, sich ein Umfeld aufzubauen, das die eigenen Schwächen auffängt und ausgleicht.

Herr Stahlmann, was versteht man eigentlich unter Sorgfalt?

In der Persönlichkeitspsychologie beschreiben wir Menschen anhand von allgemein gültigen Verhaltensmustern. In den letzten 40 Jahren hat sich dazu ein Hauptmodell herauskristallisiert. Basis sind fünf abstrakte Eigenschaften, die sogenannten «Big Five», die sich zu insgesamt 30 Facetten differenzieren lassen. Sorgfalt lässt sich den Facetten «Ordnungsliebe» oder «Pflichtbewusstsein» zuordnen, die beide zur zentralen Eigenschaft «Gewissenhaftigkeit» gehören. Sorgfalt könnte man also mit Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit beim Handeln erklären. Die anderen vier zentralen Begriffe sind emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Extravertiertheit und Offenheit für Erfahrungen.

Sprachgeschichtlich stammt das Wort «Sorgfalt» aus dem Mittelhochdeutschen und steht für «Sorgenfalten». Sind sorgfältige Menschen also tendenziell mit düsterer Miene unterwegs?

Nein, das kann man aus der Erfahrungswissenschaft nicht belegen. Das Sorgenvolle hat mit Sorgfalt nichts zu tun, sondern es gehört in den Bereich emotionale Stabilität. Natürlich ist diese Eigenschaft bei einzelnen Menschen mit Sorgfalt kombiniert – aber es gibt keinen Zusammenhang zwischen sorgfältig und sorgenvoll.

Also wird Sorgfalt grundsätzlich positiv bewertet?

Ja, durchwegs. Befragungen zeigen, dass die Persönlichkeitseigenschaft «Sorgfalt» auf einer Skala von minus drei bis plus drei eine Zwei erreicht. Ähnlich hohe Werte erreichen zum Beispiel die Begriffe «energiegeladen», «pflichtbewusst», und «vernünftig» – allesamt positiv bewertete Persönlichkeitsbeschreibungen.

Nicht alle Menschen sind gleich sorgfältig. Wie kommt das?

Studien der letzten vier Jahrzehnte zeigen, dass 40 bis 50 Prozent der Variabilität von Sorgfalt auf das Erbgut zurückgehen; ähnlich verhält es sich mit dem Intellekt. 30 Prozent sind auf die sogenannte «nicht geteilte Umwelt» zurückzuführen, ein kleiner Teil auf die geteilte Umwelt, und die Herkunft des Rests ist ungeklärt.

Was wird unter «geteilter und nicht geteilter Umwelt» verstanden?

Zur nicht geteilten Umwelt gehören jene alltäglichen Erfahrungen, die ein Kind allein macht: in der Schulklasse, bei Freizeitbeschäftigungen oder auch mit einer spezifischen Erkrankung. Die Familie oder die Wohnsituation wiederum werden dem Bereich «geteilte Umwelt» zugeschlagen.

Ist eine Person, die sich sorgfältig gegenüber ihrer Umwelt verhält, automatisch auch sorgfältig zu sich? Und ist man einmal sorgfältig, einmal nicht?

Sorgfalt bezieht sich in erster Linie auf Dinge und Aufgaben, weniger auf Sozialbeziehungen. Die Beziehung zu Menschen oder Haustieren wird im Bereich Verträglichkeit aufgefangen, also einem anderen der «fünf grossen Begriffe» der Persönlichkeitspsychologie. Und zur Frage, ob man immer gleich sorgfältig ist: Eine gewissenhafte, sorgfältige Person wird während eines Tages alle Varietäten des Verhaltens zeigen, also auch mal unsorgfältig sein. Doch über eine längere Periode beobachtet setzt sich die Sorgfalt durch.

Beobachte ich meine eigenen Teenager, verzweifle ich manchmal fast daran, wie verpeilt sie sein können. Wann entwickelt sich der Sinn für Sorgfalt?

Sie dürfen hoffen! Am stärksten formt sich die Sorgfalt bei Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren. Das muss auch so sein, denn in dieser sensibelsten Phase müssen diese Menschen laufend neue Aufgaben übernehmen, die Jungen wachsen in ihre neue Rolle hinein. Gleich noch eine gute Nachricht: Die Sorgfalt wächst lebenslang weiter. Auch junge Erwachsene von 20 bis 29 verbessern sich; später gibt es weiterhin leichte Zuwächse.

Und wenn der Sohn besonders schusslig ist?

Es gibt den Begriff der Rangfolgenstabilität: Das sorgfältigste Kind einer Klasse wird auch an der Klassenzusammenkunft 30 Jahre später wahrscheinlich noch die sorgfältigste Person dieser Gruppe sein. Das liegt auf der Hand, wenn wir uns daran erinnern, dass ja die Gene zur Hälfte dazu beitragen, das Persönlichkeitsmerkmal «Sorgfalt» auszubilden. Also wird Ihr Sohn wohl nie durch eine ausgeprägte Sorgfalt auffallen.

In Ihrer aktuellen Forschung untersuchen Sie, wie die Ausbildung des Zivilengagements von Persönlichkeitseigenschaften abhängt. Hilft auch Sorgfalt?

Die Studie schliessen wir erst Ende Jahr ab. Internationale Befunde zeigen aber, dass es einen kleinen Zusammenhang zwischen Sorgfalt und gesellschaftlichem Engagement gibt: Wer sorgfältig und gewissenhaft ist, nimmt etwa eher an Wahlen teil. Der Grund könnte ein Pflichtbewusstsein gegenüber Staat oder Gesellschaft sein.

Sorgfalt wird allgemein positiv aufgefasst – müsste man in den Schulen mehr tun, um die Eigenschaft zu fördern?

Da bin ich zurückhaltend. Es gibt zwar Studien, in denen versucht wurde, die Sorgfalt der Probandinnen und Probanden zu verbessern, aber die Arbeiten wurden häufig kritisiert. Aktuell wissen wir schlicht nicht, wie Gewissenhaftigkeit gesteuert werden kann. Vermutlich wäre die Schule der richtige Ort, aber die Mechanismen liegen noch im Dunkeln.

Vielleicht müssten wir nach Asien in die Ferien reisen? Dort scheint Sorgfalt Bestandteil der Kultur zu sein.

Tatsächlich gibt es in Sachen Sorgfalt leichte kulturelle Unterschiede und andere gesellschaftliche Rituale, aber sie werden überschätzt. Würden wir das Verhalten im Alltag von 1000 Personen in Japan und in der Schweiz vergleichen, wären die Unterschiede verschwindend klein.

Aber unsere Grosseltern waren bestimmt sorgfältiger als wir oder unsere Kinder?

Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Diese Form der Persönlichkeitsforschung gibt es erst seit den Achtzigerjahren. Wenn man 25-Jährige in den Neunzigern mit 25-Jährigen von heute vergleicht, gibt es tatsächlich kleine Unterschiede. Diese zeigen aber überraschenderweise, dass die Jungen von heute tendenziell sorgfältiger sind als jene am Ende des letzten Jahrtausends.

Trotzdem schadet es wohl nichts, sich etwas anzustrengen und an der eigenen Sorgfalt zu feilen.

Zwar liegt die Selbstoptimierung im Trend, doch ich würde die Priorität anders legen. Ich rate nicht dazu, an der Veränderung zu arbeiten. Zielführender ist es, erst einmal sein eigenes, individuelles Profil herauszufinden. Dann geht es darum, sich ein Leben einzurichten, das zu diesem Persönlichkeitsprofil passt. Vielleicht finde ich einen Partner oder eine Partnerin, die mich ergänzt. Auf die Arbeit gemünzt könnte das heissen, dass ich ein Team suche, das meine Schwächen auffängt und meine Defizite ausgleicht. Passt die Umgebung zur eigenen Persönlichkeit, verbessert das im Beruflichen die eigene Leistung und im Privaten die Zufriedenheit. Und um die geht es uns letztlich.

Alexander Stahlmann

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Alexander Stahlmann

Alexander Stahlmann ist Postdoktorand am Lehrstuhl für Differenzielle Psychologie und Diagnostik am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Aktuell betreut er eine Studie zum Thema «Persönlichkeit und Zivilengagement über die Lebensspanne».

Kilian Ziegler

Nur fünf Minuten

Verschlafen, Bus verpasst, Handy vergessen, Auftrag verloren - am Schluss bleiben nur noch Kaffeerahmdeckeli. Kilian Ziegler schreibt darüber, welche gravierenden Folgen fünf Minuten auf das ganze Leben haben können.

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