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Nur fünf Minuten

Eine Glosse von Slam Poet Kilian Ziegler darüber, welche Auswirkungen nur fünf Minuten haben können.

Das ist das Schöne am Sonntag, du öffnest langsam die Augen, ohne zu wissen, wie spät es ist, blinzelst dich gemächlich in den Tag, die Welt erwacht mit dir und du siehst deinen Gedanken seelenruhig beim Schweben zu.

Und einer dieser Gedanken lautet: Es ist nicht Sonntag! Es ist Mittwoch! Nicht einmal annähernd Wochenende – es sei denn, man ist Student, was du aber nicht bist, du bist angestellt und musst zur Arbeit. «Fluchwort», denkst du (also du denkst nicht «Fluchwort», sondern ein spezifisches, sehr wüstes Fluchwort). Du hast verschlafen! Wie konnte das passieren? Wecker, du Nichtsnutz, you had one job. Dein sorgfältig geplanter Tag, deine Routine ist aus dem Gleichgewicht. Aus Yin und Yang wird Oje und mine. Aus deiner planerischen Sorgfalt werden Sorgenfalten.

Immerhin, es sind nur fünf Minuten, nichts, was nicht aufzuholen wäre. Also stösst du die Decke zur Seite und stolperst in den Tag: Deine bessere Hälfte ist bereits aus der Tür, was dich gleich noch mehr nervt, die Katze zickt dich an, du bellst zurück, putzt dir die Zähne, zumindest jene oben, für mehr reicht es nicht, eilst unter die Brause, kommst beim Duschen ins Schwitzen, schlingst dein Frühstück runter – am Morgen also schon Fast Food –, so dass die Speise in die Röhre blickt.

Du hetzt aus der Wohnung und siehst, wie dein Bus sich fortstibitzt. Auf den nächsten warten? Keine Zeit. Darum rennst du wie ein Wahnsinniger hinterher, forrestgumpst der Strasse entlang, schreist einsilbig Unverständliches, das etwas wie «haaalt!» heissen könnte. An jedem anderen Tag wäre Stress bloss ein Musiker, Tempo nur ein Taschentuch und Speed lediglich ein Film. Doch heute ist dein Leben fast and furios und du Vin Diesel für Arme (Vin Bleifrei 95?). Du verfolgst den Bus bis zur nächsten Haltestelle, steigst ein, ringst um Luft und Fassung. Mütter nehmen bei deinem Anblick ihre Kinder zur Hand, Rentner krallen sich an ihren Taschen fest, ein Jugendlicher filmt dich mit seinem Handy. «Ruhig und freundlich bleiben», denkst du und sagst dann: «EXTREM WÜSTES FLUCHWORT!». Du bist im falschen Bus.

Du willst die Verbindungen checken, doch hast dein Handy nicht eingepackt. Also du hast es schon eingepackt, nur hast du, wie sich herausstellt, nicht zum Telefon gegriffen, sondern zur Fernbedienung. Du probierst den Off-Button, doch bleibst gefangen in diesem Horrorsteifen von einem Tag.

Eine Umsteigeodyssee später bist du endlich am Bahnhof. Liebe SZU, bitte sei einmal nur verspätet, einmal. Normalerweise schätzt du ja deren Pünktlichkeit, ist die Sihltal Zürich Uetliberg Bahn doch so sorgfältig unterwegs wie du. Aber kann sie nicht heute bloss etwas weniger schweizerisch sein? Etwas mehr Südländerin? So à la Chilltal Zürich Gmüetliberg Bahn? Warum nicht etwas Siesta auf den Gleisen, bis alle Gäste eingestiegen sind (wobei du mit «allen Gästen» vorwiegend dich selbst meinst)? Aber nein, vom Zug siehst du nur die grinsenden Rücklichter, als stünde S10 für zehnfache Schadenfreude. Un-Bahn-Herzig!

Endlich im Büro. Du betrittst den Konferenzraum, dein Chef, deine Kollegen, der Grosskunde, alle sitzen schon, du keuchst gleichzeitig Begrüssung und Entschuldigung, Schweiss rinnt an dir runter, «hier sollte man mal lüften», witzelst du, bis du merkst: was hier so stinkt, bist du. Deine Notizen? Zuhause. Du improvisierst dich durch das Meeting, schlechter als die dilettantischste aller Improtheater-Gruppen, worauf der Kunde neunzig qualerfüllte Minuten später seufzt: «Wir melden uns» und meint damit: bei der Konkurrenz.

Du weisst nicht, ob sich folgendes während fünf Minuten, fünf Tagen oder fünf Monaten abspielt, doch plötzlich geht es schnell: Deine Firma verliert den Auftrag, abertausende von Franken, ihren guten Ruf, alle Kunden und du schliesslich deinen Job. Du findest keine Stelle mehr, mitunter weil dein Ausraster im Bus auf Social Media viral gegangen ist, du kannst nicht mehr ohne Schmach nach draussen, bist deprimiert, hörst auf dich zu pflegen, machst keinen Sport mehr, schaust nur noch fern (obwohl du die Fernbedienung damals unterwegs verloren hast), deine bessere Hälfte macht Schluss, die Katze wandert aus (wahrscheinlich irgendwo nach Katz’achstan), verlierst Wohnung und Würde, ziehst in eine 12-er WG und sammelst professionell Kaffeerahmdeckeli.

Manchmal, wenn du sonntags im Bett liegst und deinen Gedanken seelenruhig beim Schweben zusiehst, scheint es dir, als warst du eben noch ein funktionierender Mensch. Einer, der nicht vergisst, den Wecker zu stellen. Einer, der der SZU nicht hinterherrennt, sondern drinsitzt. Freud und Leid, Krieg und Frieden, Genie und Wahnsinn, denkst du, sie liegen nahe beieinander. In manchen Fällen durch nichts weniger getrennt als harmlose fünf Minuten.

Kilian Ziegler

Kilian Ziegler

Kilian Ziegler

Kilian Ziegler gehört zu den erfolgreichsten Slam Poeten der Schweiz. Der Wortakrobat und Kabarettist begeistert das Publikum mit unverkennbaren Wortspielen, intelligentem Humor sowie bestechender Bühnenpräsenz.

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