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Interview über Achtsamkeit

Im Interview erzählt Karin Messmer, weshalb sie bestrebt ist, möglichst achtsam durchs Leben zu gehen, woran es liegt, dass Erwachsene nicht mehr so leicht in den Flow kommen, und wie sie reizüberfluteten Menschen hilft.

Was haben Sie dank Achtsamkeit heute schon wahrgenommen?

Eigentlich ist es mein Bestreben, jeden Moment so achtsam wie möglich zu erleben. Aber es gibt Gelegenheiten, die verstärkt dazu einladen: Heute war dies mein Morgenspaziergang. Auch der erste Bissen eines Essens kann eine Einladung zur Achtsamkeit sein. Unser Leben ist einem steten Wandel unterworfen, so wie ein Garten. Kaum hat man in diesem für Ordnung gesorgt, zeigt er sich tags darauf bereits wieder anders. Dank der Achtsamkeitspraxis nimmt man solchen Wandel im Leben wahr.

Was verstehen Sie unter der Achtsamkeitspraxis?

Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, bewusst im Moment zu sein, ohne diesen zu bewerten. Wobei wir entscheiden, unsere Aufmerksamkeit auf den Augenblick zu lenken. Dabei kann ich meine Aufmerksamkeit gezielt auf etwas richten – etwa auf meine Sinneseindrücke, mein Körperempfinden oder meine Gedanken. Alternativ lasse ich mich auf das ein, was von aussen oder von innen in mein Bewusstsein gelangt. Diese Art von Aufmerksamkeit wird als offenes Gewahrsein bezeichnet. Üben lassen sich beide Formen der Achtsamkeit. Es gibt Menschen, die dank der Natur, beim Kreativsein oder beim Sportmachen einen Weg gefunden haben, um ihre eigene Form der Achtsamkeit zu praktizieren.

Was löst es bei Ihnen aus, wenn Sie achtsam sind?

Achtsamkeit zu praktizieren, verleiht mir Präsenz und meinem Leben sowohl Tiefe als auch Fülle, da ich den Moment auskosten kann. Es bereichert meine Erfahrung, da ich näher an dieser bin. Ich bin mit meinen Emotionen im Kontakt, wohlgemerkt mit den positiven ebenso wie mit den negativen. Je mehr ich Achtsamkeit praktiziere desto differenzierter werden die sensorische Wahrnehmung und die Interpretations- und Reaktionsmöglichkeiten auf eine Situation. Letztlich ist Achtsamkeit ein Instrument, um kleine ebenso wie grosse Krisen zu bewältigen. In solchen entsteht oft zusätzlicher Stress, weil wir die Situation bewerten. Wenn wir versuchen, ohne Bewertung mit einer Krise umzugehen, wird das Leiden schon etwas kleiner.

Hat das etwas mit Achtsamkeit zu tun, wenn kleine Kinder sich in ein Spiel vertiefen?

Kleine Kinder sind gegenwärtig im Moment. Das würde ich als Flow bezeichnen. Sie sind unmittelbar im Jetzt, konzentriert und dabei selbstvergessen. Achtsamkeit umfasst jedoch zusätzlich eine bewusste Komponente. Ein Teil von mir schaut von aussen zu, wo ich meine Aufmerksamkeit hinlenke. Eigentlich hat das etwas Paradoxes: Ich fühle mich näher am Erleben, aber zugleich begleite ich mich aus einer gewissen Distanz.

In den Flow finden wir als Erwachsene nicht mehr so selbstverständlich wie als kleine Kinder. Wie kommt das?

Das liegt daran, dass sich die Herausbildung der Persönlichkeit mit einem Ich-, Orts- und Zeitbewusstsein erst allmählich bildet. Die Hirnentwicklung ist mit rund 25 Jahren abgeschlossen. Wertvolle Fähigkeiten wie das Planen oder abstraktes Denken müssen wir erst entwickeln. Gedanklich können wir in die Vergangenheit gehen, um über Geschehenes zu reflektieren. Pläne zu schmieden erfordert eine Auseinandersetzung mit der Zukunft. Das bringt mit sich, dass wir weniger mit dem direkten Erleben verbunden sind, sondern eher in der Vorstellung, Bewertung und Interpretation verweilen.

Mit welchem Alter lässt sich Achtsamkeit trainieren?

Ich übe schon mit Kids im Kindergartenalter. Üben, die eigene Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, ist für uns alle wichtig. In unserer von äusseren Reizen dominierten Welt ist es wesentlich, ein Gegengewicht zu finden, indem wir unser inneres Erleben spüren. Der Schulstoff, Social Media und die Informationsflut bringen uns dazu, im Aussen zu sein. Deswegen ist es wertvoll, junge Kinder darin zu unterstützen, in sich selbst einen Anker zu finden. Zudem arbeite ich mit von AD(H)S betroffenen Kindern. Diese sind rasch durch Reize ablenkbar.

Wie gestalten Sie das Training mit anderen?

Ich arbeite in Gruppen oder im Einzelcoaching. Der Körper und der Atem sind Werkzeuge, die uns in den Moment bringen. In der Gruppe sitzen wir oft im Kreis, es soll humorvoll und spielerisch sein, insbesondere für Kinder. Mit dem sogenannten Body Scan gehen wir auf eine Reise durch den Körper. Für gewisse Kids ist es neu, den eigenen Körper von innen wahrzunehmen. Wer ein eigenes Körpergefühl entwickelt, hält starke Gefühle wie Wut besser aus. Denn Impulsen wie schlagen oder schreien soll man nicht automatisch folgen. Anhand des Trainings werden Kinder dazu befähigt, sich darauf zu besinnen, wie sie handeln wollen. Auch Atemübungen machen wir. Manchmal gelingt es sogar, dass schon die Kleinen im Kindergarten fünf Minuten stillsitzen und nur atmen, was Kinder generell nicht unbedingt gerne machen.

Wie gelingt Ihnen das?

Dafür kann ich den sogenannten Ninja-Atem nutzen. Neben den traditionellen japanischen Ninjas ist Ninja auch eine Comicfigur, die gut kämpfen und sich unsichtbar machen kann. In diesem Zustand sieht man nur ihren Atem. Die Kinder können sich mit dieser Figur identifizieren und sind Feuer und Flamme für diese Übung.

Wird «Achtsamkeit» manchmal auch missverstanden?

Ja, oft wird das Wort «achtsam» mit «sorgfältig» oder «vorsichtig» gleichgesetzt, aber es bedeutet viel mehr. Was mir auch auffällt, ist die Verknüpfung mit der Wellnessszene und der Selbstoptimierung. Was oftmals zur Ansicht führt, dass ich mich entspannt fühlen muss, damit ich noch mehr leisten kann. Das erzeugt enormen Druck. Die Achtsamkeitspraxis kann zur Entspannung führen, muss aber nicht. Es gibt Momente, in denen ich beispielsweise gerade nicht aus dem Stress herauskomme. Dies wertfrei wahrzunehmen und anzunehmen, gehört zur Achtsamkeit. Denn sind wir wirklich achtsam, dann spüren wir die reiche Palette an Gefühlen, die dieses bunte Leben für uns bereithält.

Karin Messmer

Portrait Karin Messmer

Karin Messmer

Karin Messmer ist Sozialarbeiterin in verschiedenen beratenden Tätigkeiten und Schulsozialarbeiterin seit 2011. Sie ist MBSR-Lehrerin («Mindfulness-Based Stress Reduction» / Stressbewältigung durch Achtsamkeit), ausgebildet am Zentrum für Achtsamkeit in Zürich sowie Mitglied von Mindfulness Swiss. Zudem hat sie diverse Weiterbildungen und Kurse zum Thema Achtsamkeit und inneres Wachstum absolviert. Dieses Wissen vermittelt sie Interessierten mit ihrer Firma Seinsklang.

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Fünf Achtsamkeitsübungen

Wer den Moment bewusst wahrnimmt, kann entspannter durch den Tag gehen. Die nachfolgenden Achtsamkeitsübungen können helfen, Stresssituationen zu vermeiden und gelassen zu reagieren.

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