Die Stange
Slam Poet Kilian Ziegler über die Auswirkungen, die es haben kann, wenn man sich im öV nicht festhält.
Die Stange. Sie ist der Grund, warum er den Tag überstanden hat. Die sich in die Länge (und Breite) ziehenden Sitzungen, die hunderttausend schier über die Ränder des Bildschirms quellenden Mails, die schlechte Luft im Büro, die immergleichen Gesprächsthemen der Kollegen, alles das hätte er heute nicht durchgestanden, ohne den Gedanken an die Stange. Jedes Mal, wenn der Chef den Mund öffnete, wenn ein Pling eine Nachricht ankündigte oder das Telefon klingelte, dachte er an das Zischen und Prickeln im Glas, die weisse Schaumkrone über dem flüssigen Gold, das Ende des Durstes am Feierabend in der Lieblingsbar – mit diesen Träumereien waren selbst die ärgsten Strapazen irgendwie auszuhalten.
Die Stange. Eine Zugfahrt noch entfernt. Der Arbeitstag endlich geschafft und er ist es auch. Was ihn nur noch von der Stange trennt: die Stange – jene, an der er sich nicht festhält. Denn der Zug bremst. Und mit bremsen ist hier nicht das gemächliche Ausrollen, das sukzessive Reduzieren der Geschwindigkeit gemeint. Nein, bremsen im Sinne von: Hättest du dich mal besser irgendwo festgehalten! Als hätte er bereits mehrere Stangen getrunken, stürzt er unverhofft – nein! –, viel mehr fliegt er nach der Vollbremsung durch den Waggon. Schade, dass Zugabteilweitflug keine olympische Disziplin ist, ihm wären Gold, Weltrekord und wahrscheinlich ebenso zig Werbeverträge sicher.
Ein mitreissender Flug, leider im wahrsten Sinne des Wortes: denn er greift reflexartig nach zwei Passagieren und reisst sie zu derer Überraschung gnadenlos mit. Ein Mensch kann vieles sein: Arbeitnehmer, Elternteil, Nachbar, Vereinsmitglied, Gourmet, bester Freund oder Konsument, aber dass Domino-Stein auch auf der Liste steht, das hat er nicht gewusst. Die unfreiwillige Zugflug-Polonaise, von der er gleichermassen unfreiwillig der Leader ist, schnappt sich etliche weitere Reisende und nimmt sie auf den Sturzflug mit. Aus drei werden vier, werden sieben, werden zehn, werden viele. Es erinnert ein wenig an Päärli-Fangis im Turnunterricht, oder – wie man die Fahrgäste aus den Sitzplätzen segeln sieht – an eine umgekehrte Reise nach Jerusalem.
Es folgt eine konfuse Choreografie, wie man sie nicht hätte planen können, ein Ballett der Verwirrung, ein Zuguwabohu: Kaffeebecher schweben durch die Lüfte, Rucksäcke machen Salti, Sandwiches zerfallen in ihre Einzelteile und aus umfallenden Einkaufstaschen purzeln Cumuluspunkte – und das alles wegen eines Mannes, der beim Anhalten nichts vom Sich-festhalten hält. Ungehalten nicht nur die Stange, auch die Stimmung: ein Schrei hier, ein Stöhnen da und viele Blicke, die wortlos, doch im Ausdruck stark formulieren: «Was zur Hölle passiert gerade?!» Niemand bleibt verschont: Berufsleute und Studis, Pendlerinnen und Touristen, GA-Besitzende und Schwarzfahrer, innert weniger Sekunden wird aus dem Zugabteil ein Menschenstapel. Aus Ordnung wird Chaos. Aus Normalität Ausnahmezustand. Würde Tarantino das alles sehen, er sicherte sich auf der Stelle die Filmrechte. Fall und Fail liegen nahe beieinander. So wie die Passagiere jetzt alle nahe beieinanderliegen.
Auftritt: Ticketkontrolleurin. Gut gelaunt betritt sie das Abteil. Eigentlich will sie verkünden, dass die Reise nach dem abrupten Halt gleich weitergehe, alles in Ordnung und kein Grund zur Sorge sei, doch als sie das Desaster sieht, entgleisen ihr, nicht ganz unpassend, die Gesichtszüge. «Was ist denn hier los?», fragt und staunt sie gleichzeitig. Lange geschieht nichts. Doch dann, aus dem Menschenberg, von ganz weit unten, ertönt eine dünne Stimme. Was sie sagt, ist nur zu erahnen. Ist es «Wange»? Oder «Zange»? «Spange», vielleicht? Nein, die Kontrolleurin hört es jetzt nach besserem Hinhören ganz genau: es ist «Stange», doch was damit gemeint ist, versteht sie nicht.
Schnitt.
Jetzt hält er sich an der Stange fest. Doch daran hängt kein Zug, es hängt ein Tropf. Jedes Mal, wenn eine Pflegefachperson nach seinem Befinden fragt, wenn sein Blutdruck gemessen oder seine Verbände gewechselt werden, denkt er an die Stange. An das zischend prickelnde, schaumbekronte Gold der Lieblingsbar. Aber er denkt eben auch an die andere, jene im Zug. Er hat es eigentlich gewusst, schliesslich ist kein Fortbewegungsmittel so sicher wie die Bahn, nur festhalten muss man sich halt eben selbst. Die Schilder, die Infrastruktur, die Durchsagen, sicherer geht’s nun wirklich nicht. Er ist mit einem blauen Auge – in Form eines sehr blauen Beines – davongekommen und zum Glück wurde sonst niemand verletzt. Er schwört sich, ab heute wird er der Stange die Stange halten. Da ist er sich sicher.
Kilian Ziegler

Kilian Ziegler
Kilian Ziegler gehört zu den erfolgreichsten Slam Poeten der Schweiz. Der Wortakrobat und Kabarettist begeistert das Publikum mit unverkennbaren Wortspielen, intelligentem Humor sowie bestechender Bühnenpräsenz.